Westfälische Stollentruhe der Spätgotik

Westfalen, 1480-1500

Eichenholz mit Eisenbeschlag und Bildhauerarbeit.

Höhe: 98 cm
Breite: 190 cm
Tiefe: 67 cm  Inv. Nr.: 2063

Provenienz: Alte Privatsammlung, Hessen.

Die monumentale Truhe steht lotrecht auf vier breiten, durchlaufenden Stollen. Die Wände, der Boden und der Deckel sind aus jeweils zwei kräftigen Bohlenbrettern mit sorgfältig gehobelter Oberfläche gefertigt, untereinander stumpf gestoßen und gedübelt. Innenseite links mit einem Fachboden, rechts mit breiter Beilade (Klappdeckel verloren); längs der Rückwand die Nut eines verlorenen Stellbrettes. Sowohl die Oberseite, als auch die Kante des Truhendeckels und der Korpusrand sind von einem dreiseitig umlaufenden Eisenband eingefaßt. Von den elf Deckelbändern sind fünf zugleich Scharnierbänder, die auf der Rückseite bis unter den Truhenboden geführt sind; das mittlere ist zudem auch Überwurfband für das zentral eingelassene Schmetterlingsschloß mit den zu Breitlilien ausgeformten Spitzen.

Eisenbeschlag

Eine Besonderheit der vorgestellten Stollentruhe ist der reiche, in strenger Ordnung ausgeführte Bandbeschlag. Auf der Front, dem Deckel und den Seiten alternierend einfache und Lilienbänder und prägen das eindrucksvolle, tresorartige Erscheinungsbild dieses seltenen Möbels. In regelmäßigen Abständen sind Eisennägel in die Lilienbänder eingelassen, deren Köpfe die Bänder ornamental gestalten. Der Bandbeschlag, vor allem auf der Truhenrückseite, zeigt Spuren einer roten Fassung.

Der Beschlag dieser Truhe wurde vornehmlich nicht nach funktionalen Erfordernissen konstruiert, sondern diente der Dekoration und war vor allem Statussymbol. Er steht für die am Beginn der frühen Neuzeit vom Stadtpatriziat ausgehende Luxurierung der Hochzeitstruhen durch ein Überziehen mit möglichst vielen Eisenbändern[1]. Denn Eisen war zu jener Zeit ein sehr kostbares Material; so sollte dieses Prunkmöbel den herausgehobenen Status seines Besitzers hervorheben.

Stollendekor

Die Stollen, die noch ihre originale Länge (!) aufweisen, sind mit einer qualitätvollen Schnitzarbeit in Form von gotischem Maßwerk verziert. Die Innenseite der Stollenfüße ist jeweils mit einem halben Vierpass versehen, dessen Passspitzen in freistehenden Lilien enden. Der halbe Vierpass wird oben und unten von fünf gotischen Spitzbögen eingefasst, ein Dekorelement, welches bisher auf keiner weiteren westfälischen Stollentruhe nachgewiesen werden konnte. Der Kontrast von scharfkantigen Architekturlinien und plastisch herausgearbeiteten Lilien erinnert an Steinmetzarbeiten der Mitte des 15. Jahrhunderts. In der Truhenansicht bilden die beiden sich zuneigenden, durchbrochenen Fußinnenkanten eine ausgesprochen lebendige, die Statik unterstreichende, harmonische Wirkung[2].

Erhaltungszustand und Würdigung

Diese Truhe gehört zu den sehr frühen, noch im 15. Jahrhundert entstandenen Westfälischen Stollentruhen. Nur wenige Vergleichsstücke haben sich von diesem prächtigen Truhentypus erhalten, meist in musealen Sammlungen. Der altersgemäße Erhaltungszustand der Truhe ist außerordentlich gut und zeichnet sich aus durch seine historische, meist unberührte Patina. Zu den wenigen Altrestaurierungen gehören zwei spätere Verstärkungen an der Deckelinnenseite sowie Teile einiger Bänder. Das Holz ist teils wurmstichig, vor allem an den Stollenenden, aber inaktiv und von solider Substanz. Die originale Schlossmechanik hat sich erhalten; ein Schlüssel ist nicht mehr vorhanden. Besonders hervorzuheben ist die originale Länge der Stollen, die bei einem Möbel mit einem Alter von mehr als 500 Jahren, von großer Seltenheit ist.

Neben der virtuosen Schmiedekunst ist der charakteristischen Bildhauerarbeit dieses frühen und absolut seltenen Meisterwerks ein hoher eigenständiger künstlerischer Wert beizumessen.

Literatur zum Vergleich

  • Baumeier, Stefan, Beschlagene Kisten; Die ältesten Truhen Westfalens, Essen, 2012.
  • Falke, Otto von, Deutsche Möbel des Mittelalters und der Renaissance, Stuttgart, 1924.
  • Kreisel, Heinrich, Die Kunst des deutschen Möbels, Von den Anfängen bis zum Hochbarock, München, 1968, Band I.
  • Stülpnagel, Karl Heinrich von, Die gotischen Truhen der Lüneburger Heideklöster, Cloppenburg, 2000.
  • Windisch-Graetz, Franz, Möbel Europas, Band I, Von der Romanik zur Spätgotik, München, 1982.

 

[1] vgl. Baumeier, Seite 107
[2] vgl. Baumeier, Seite 57